Jetzt schon an später denken
Als ich vor einigen Tagen wiedereinmal eines meiner Notizbücher ausmusterte, rutschte ich auch wieder in eine Gedankenspirale. Keine Sorge – ich gelangte unbeschädigt wieder heraus.
Vor längerer Zeit schon habe ich beschlossen, daß meine Notizbücher irgendwann – also dann, wenn es Zeit dazu ist – ins DEUTSCHE TAGEBUCHARCHIV gelangen sollen.
Wieso denn das? Es steht doch nur drin, was ich reinschrieb: Belanglosigkeiten, Gedankenmacherei, meine Blogtexte, unabgeschickte Liebesbiefe, Obszönitäten, Gestammel. Also nichts, was wirklich von Bedeutung ist.
Dann dachte ich genauer darüber nach. Woher werden die Nachfolgenden erfahren können, wie das Leben in meiner Zeit war? Aus Zeitungen. Aus den Fernsehsendungen, in denen schon fast die Hälfte aller Reportagen durch diese neumodische Wirklichkeit nach Drehbuch (scripted reality) ersetzt wurde.
Aber ernsthaft gefragt: Leben wir wirklich so, wie es in GZSZ, Verliebt in Berlin, Reich und schön, in Barbara Salesch oder Richter Holdt, im Polizeiruf 110 oder im Großstadtrevier gezeigt wird?
Woher wissen wir eigentlich, wie die «normalen Leute früher» lebten?
Na?
Die konnten ganz früher weder lesen noch schreiben, also wissen wir nur aus den Beschreibungen der Bessergestellten und aus Akten und Urkunden und aus Briefwechseln etwas. Später dann kamen Romane, Geschichtsbücher und was nicht noch alles dazu. Aber auch das waren i. d. R. Betrachtungen des Lebens «von draußen». Wir wissen so gut wie NICHTS.
Dann gab es Menschen, die Tagebuch führten. Und es gab weiter Briefwechsel. Wieder waren das meist Privilegierte. Aber das Papier blieb oft erhalten.
Dann konnte zumindest hier in Mitteleuropa die überwiegende Mehrheit schreiben und lesen, auch wenn das erst nach 1900 so war (das hab ich jetzt aus dem Bauch heraus so festgelegt). Und die hinterlassenen Papiere blieben zu einem Teil erhalten.
Für Film- und Tonaufnahmen wurden einfache, ohne Elektrizität arbeitende Verfahren genutzt.
All das kann Mnesch auch heute noch ohne dicke Computer nutzen: beschriebenes Papier, Schallplatten, Photographien. Auch in Zukunft können diese Dinge noch sehr einfach genutzt werden.
Und vielleicht habe ich ja in meinen Tagebüchern, in meinen Schmier- und Notizheften etwas festgehalten, das später einmal von Interesse sein kann? Nämlich das tägliche, alltägliche, beschissene Leben, das viel öfter zum Kotzen als zum Jubeln war.
Deshalb, weil sie einfach nutzbar ist und weil ich selbst gerne mehr über meine Vorfahren wissen möchte als ich erfahren kann, gebe ich meine Sammlung an Aufgeschriebenem und Photographiertem als Vermächtnis ans DTA.
In diesem Sinne: Größenwahn geht anders.
Natürlich gehört dieser Text zu meinem Artikel über Das «Kleine Schwarze».