Der Grund für alles
Ich verfolge einen im besten Sinne Verrückten, der seit dem 28. März unterwegs ist Um's Meer – Irgendlink, einer, der mit den Fahrrad um die Nordsee fährt. Jetzt hat er 2000 km hinter sich gebracht, ist kurz vor der englisch-schottischen Grenze und philosophiert ab und an öffentlich vor sich hin.
Auszug aus dem «Modell zur Erklärung der Entstehung von Kräften anhand zweier Guesthäuser in Sunderland»
Ich fabuliere an einer Bloggeschichte, in der ich ein fiktives Sunderland entwerfe, in dem es genau zwei B&B-Häuser gibt, und die nie voll ausgebucht sind. Das heißt, sie dürfen es sich nicht erlauben, auch nur einen Gast zu verpassen, müssen froh sein um jede Seele, die an ihre Tür klopft, und der sie Herberge geben können. Ein hanebüchenes Bild. Aber ich will ja die Entstehung von Kräften, von Bewegung, von Veränderung erklären, ich will die Entstehung an sich erklären. Beide Häuser sind gleich ausgestattet zum Zeitpunkt Null, irgendeinem Jahr soundsoviel, die genaue Zeit ist unerheblich. Dem Gast kann es zum Zeitpunkt Null vollkommen egal sein, in welches Haus er einkehrt. Weder ist das eine schmutziger als das andere, noch ist es billiger, noch ist die Aussicht aufs Meer besser oder schlechter. So mag man einige Jahre wirtschaften in den beiden Häusern, ohne dass irgendwetwas sich verändert, bis zu jenem Zeitpunkt, nennen wir ihn Eins, an dem das Kräftesystem aktiv wird, an dem es mit dem einen Haus wirtschaftlich den Bach runter geht und mit dem anderen Haus geht es aufwärts. Fast schon ein Bild, mit dem, man die Welt erklären könnte mit ihrer sozialen und materiellen Ungerechtigkeit: der Reichtum der einen bedingt die Armut der anderen. Die Armut der einen macht die anderen reich. Und alles nur, weil die gesamte Welt, ja, sogar unser Organismus, nach diesem Kräftegleichgewichtsprinzip funktioniert. Zunächst leben wir in einer ausgewogenen Weise, gesund, harmonisch, aber an einem schönen Tag, es genügt ein winziger Impuls, haben wir plötzlich nur noch Pech, fangen an zu trinken, um das Pech nicht mit ansehen zu müssen und finden uns ruckzuck in einer Endlosschleife abwärts wieder. Das Gästehaus “Villa” wird nicht mehr so oft gebucht wie das Gästehaus &ldauo;Areldee”. Somit ist sein Host finanziell schlechter gestellt, kann nicht mehr renovieren, was wiederum weniger Gäste anlockt, was zur Frustration führt, weshalb der Host zu Trinken anfängt, um sich zeitweilig dem Frust zu entziehen und so weiter und so fort. In Areldee hingegen weht ein ganz anderer Wind.
Quelle: Irgendlink. «Modell zur Erklärung der Entstehung von Kräften
anhand zweier Guesthäuser in Sunderland».
Ich habe meine dortigen Kommentare hierher mitgenommen und ein wenig ergänzt.
«Zunächst leben wir in einer ausgewogenen Weise, gesund, harmonisch, aber an einem schönen Tag, es genügt ein winziger Impuls, haben wir plötzlich nur noch Pech, fangen an zu trinken, um das Pech nicht mit ansehen zu müssen und finden uns ruckzuck in einer Endlosschleife abwärts wieder.»
Da ist für mein Denken der erste Knackpunkt: Welcher Art muß / kann dieser (winzige) Impuls sein? Welche Ursache hat er? Ist sein Auftreten der ultimative Gottesbeweis, der Nachweis, daß da mehr als nur das “Reale” real ist?
Beim Zwei-Guesthäuser-Dilemma kann ich mir noch vorstellen, daß ein Gast den einen Wirt einmal nicht so gut leiden kann und in einem Monat so der Grundstein für fehlende 80 £ – aber wie ist das mit der Welt ansonsten?
Es braucht eine Störung? Eine Anregung? Eine Anomalie! Jede Anomalie – also alles Un- und Außergewöhnliche – bringt die Welt aus dem schönen bequemen Gleichgewicht. Darf ich das so stehenlassen?
Ach so. Ja. Ähm.
Mit einem Zwei-Guesthäuser-Dilemma hat Irgendlink ja die Wirkungen, aber nicht die Entstehung von Kräften beschrieben. «Aber ich will ja die Entstehung von Kräften, von Bewegung, von Veränderung erklären, ich will die Entstehung an sich erklären. … bis zu jenem Zeitpunkt, nennen wir ihn Eins, an dem das Kräftesystem aktiv wird …»
Und während ich oben noch fragte, welcher Impuls zum diesem Zeitpunkt Eins führen kann / muß / notwendig ist, frage ich mich jetzt einmal mehr, wo das postulierte Kräfteverhältnis, das Kräftesystem, das bis dato niemand bemerkt hat, herkommt. Wie es entsteht.
Nehme ich an, daß es das Kräfteverhältnis allewiglich und von sich aus unveränderlich gibt und ich es – weil alle Kräfte wahrlich existieren und im vollständigen Gleichgewicht sind (und somit scheinbar keine Kräfte wirken oder gar existieren) – nur nicht wahrnehmen kann, so braucht es doch die Kräfte (wo kommen die her? Weiter unten gehe ich der Frage nach.) und einen von ihnen unabhängigen Impuls (womöglich von unendlicher Kleinheit: “Predictability: Does the flap of a butterfly’s wings in Brazil set off a tornado in Texas?” lautete der Titel eines 1972 gehaltenen Vortrages von Edward N. Lorenz, der dem butterfly effect seinen Namen gab) , der dieses Gleichgewicht für mich stört, mich ein Ungleichgewicht und damit die Kräfte überhaupt und an sich (Immanuel Kant läßt grüßen) wahrnehmen und ihren Charakter erkennen und sie anhand ihrer Wirkungen unterscheiden läßt. Wieder steht die Frage nach der All-Ursache, nach dem Urgrund des Seins … Die nach dem ersten Impuls.
Nehme ich aber an, daß es bis zum Zeitpunkt Eins keine Kräfte gibt, wirklich keine, auch keine, die im absoluten und daher Nichtexistenz vortäuschenden Gleichgewicht sich befinden: Wo kommen diese Kräfte plötzlich her? Ihre Entstehung bleibt auch in Irgendlinks fiktiven Sunderland ein Gotteswunder. Denn: Selbst bei der mehr oder weniger spontanen Entstehung von Teilchen aus dem Vakuum, aus den (Quanten-)Fluktuationen des Vakuums, ist vorher etwas da: Die Energie, welche die Fähigkeit ist, Arbeit zu verrichten, also Kräfte wirken zu lassen. Wo ist im fiktiven Sunderland diese Energie? Und was bitteschön führt zu ihrer Umwandlung in wirkende Kräfte?
Irgendeine Ursache für alles muß es doch geben? Wenn es etwas gibt, so muß etwas dasein, woraus dieses Etwas entstanden ist und es braucht einen anfänglichen Impuls – selbst Zufall (bei der Quantenfluktuation) setzt Quanten, also Energie, und eben einen Zufall, eine Störung voraus.
Es sein denn: Nichts existiert wirklich denn in unserm Geiste.
Je länger ich über Irgendlinks Gedanken nachdenke, umso verwirrter bin ich …
Über die Entstehung von Kräften weiß ich also bis jetzt nicht viel mehr als ich ohnehin aus Physikstudium und Verfolgen interessanter physikalischer Arbeiten schon wußte. Zum Schluß bleibt noch die Frage: Kann ich die Gedanken zur (unbelebten) Natur einfach so auf menschliches, in seltenen Glücksfällen durchaus bewußtes Handeln übertragen?
In diesem Sinne: Machts gut bis neulich.
© 2012 - Der Emil.
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